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Schildbürgerstreiche NRW: Borschemich erhält 2004 Kanalisation - dann kommt der Bagger

Das Dorf Borschemich soll im Jahre 2005 vom Erdboden verschwinden, denn es liegt im Braunkohlegebiet »Garzweiler II«. Ebenso stand bis letzte Woche fest: Die 620-Seelen- Gemeinde muß vorher noch vollständig kanalisiert werden. Die Kanalisation sollte im Jahre 2004 fertigwerden, rechtzeitig zum Abriß, und 4,2 Millionen Mark kosten. So steht es seit 1998 im Abwasserkonzept der Stadt Erkelenz, zu der Borschemich gehört. Das alles klingt wie ein Schildbürgerstreich, aber es ist eine Anweisung des Regierungspräsidenten.

»Ein unglaublicher Irrsinn - der Regierungspräsident plant den Braunkohleabbau, und dieselbe Behörde verordnet uns die Kanalisation«, erregte sich Josef Boss, früherer Bürgermeister von Borschemich, der den Protest ins Rollen brachte. Innenarchitekt Boss führt in Borschemich ein Möbel- und Einrichtungshaus mit 15 Beschäftigten. Als der Irrsinn letzte Woche öffentlich wurde, schaltete der Kölner Regierungspräsident blitzschnell um. Jürgen Roters, verbindlicher als sein Vorgänger Franz-Josef Antwerpes, der den Erkelenzer Beschluß genehmigt hatte, tritt nun für einen Gnadenakt ein, »bürgerfreundliche Lösung« genannt. Sie könne zum Beispiel in einer mobilen Entsorgung bestehen, einem »Kanal auf Rädern«. Roters beharrt allerdings darauf, daß der Beschluß der Stadt Erkelenz völlig korrekt auf der Abwasserverordnung von NRW und auf dem EU-Recht beruhe. Auch das Umweltministerium in Düsseldorf ließ durch seine Presseabteilung verbreiten: »Die EU verlangt den Kanalanschluß aller Gemeinden bis spätestens 2005. Daran müssen wir uns halten.«

In der EU-Richtlinie vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser steht aber etwas anderes. Zum Beispiel, daß bis 2005 nur Gemeinden über 2 000 Einwohner kanalisiert werden sollen. Vor allem aber heißt es in Artikel 3: »Wenn die Einrichtung einer Kanalisation keinen Nutzen für die Umwelt mit sich bringen würde oder mit übermäßigen Kosten verbunden wäre«, dann sind »individuelle Systeme« zulässig. Solche Systeme wie Dreikammergruben mit anschließender Verrieselung gibt es in Borschemich in allen Häusern, und zwar seit Jahrzehnten, mit behördlicher Genehmigung. Die meisten Grundstücke der bäuerlichen Gegend sind groß genug für solche Anlagen. Eine »bürgerfreundliche Lösung« wie die von Roters ist deshalb gar nicht nötig. Diese Variante würde zwar nicht 4,2 Millionen kosten wie die geplante Kanalisation, aber doch zusätzliche Kosten verursachen. Und nach der Zwangsumsiedlung 2005 müssen die Borschemicher am neuen Standort sowieso wieder einen Anliegerbeitrag für den Kanalanschluß bezahlen.

Der Fall Borschemich ist die absurde Spitze einer gezielten Fehlinterpretation der EU-Richtlinie. Die genannten Bestimmungen finden sich im deutschen und insbesondere im nordrhein-westfälischen Abwasserrecht bisher kaum wieder. Das geht auf das unsichtbare Wirken der deutschen Kanallobby zurück. Und die arbeitet in der Eifel wie im märkischen Sand. Die NRW-Landesregierung hat ihre Praxis ins Partnerland Brandenburg importiert. Überall werden den Bürgern ländlicher Gebiete mit dem unzulässigen Hinweis auf EU-Recht unnötige und teure Kanalsysteme und Klärwerke aufgenötigt. In Sachsen und Brandenburg ist das nicht anders als in Rheinland-Pfalz und Bayern. Überall halten die Regierungspräsidenten ihre schützende Hand über die Kanal- Lobby.

So klagt auch die 40 000-Einwohner-Stadt Erkelenz seit 1995 gegen den Planer und die Baufirma, die ihr auf Druck von Antwerpes eine viel zu große Kläranlage hingebaut haben. Mindestens 15 Millionen DM wurden sinnlos verpulvert und haben die Gebühren hochgetrieben. Eigentlich müßte Antwerpes verklagt werden, aber höhere Beamte sind in Deutschland bekanntlich nicht für ihre (Un-)Taten verantwortlich zu machen. Die Planungsbüros, Kanal- und Betonfirmen verstecken sich mit Hilfe der Regierungspräsidenten hinter dem fiktiven EU-Recht. Bei Bedarf können sie das sicherlich nicht unberechtigte Vorurteil gegen die »Bürokratie in Brüssel« aktivieren und von ihren eigenen Interessen ablenken. Auch die Medien machen gerne mit, im Falle Borschemich allen voran die Bild-Zeitung, um die »EU-Bürokraten« anzuprangern.

In anderen EU-Mitgliedsstaaten sind weite Landstriche überhaupt nicht kanalisiert, auch Ausnahmen und Terminverlängerungen können nach EU-Recht leichter ausgehandelt werden, als die deutschen Behörden behaupten. Außerdem passiert überhaupt nichts, selbst wenn ein verlängerter Termin überschritten wird. Die Millionenstädte Brüssel und Mailand bauen gerade ihre ersten Kläranlagen überhaupt - auch dieser Zustand ist von der EU geduldet worden, obwohl die Termine für den Bau längst überschritten waren. Die Europäische Kommission hat zudem im Juli 2000 Klage gegen die Bundesrepublik wegen fehlerhafter rechtlicher Umsetzung der EU-Abwasserrichtlinie eingereicht.

»Die Abwasserverordnung von NRW muß entsprechend Artikel 3 der EU-Richtlinie geändert werden, sonst hört der Kanalirrsinn nie auf, ein Gnadenakt reicht nicht«, so Siegbert Mahal, Sprecher der bundesweiten »Interessengemeinschaft Dezentrale Abwasserentsorgung« (IDA). Niedersachsen und die neuen Bundesländer haben ihre Verordnungen inzwischen geändert. Das ist natürlich nicht ausreichend, um die jahrzehntelange Beton-Herrschaft zu beenden, aber ein erster Schritt, wenn er von Bürgerinitiativen genutzt wird.

Werner Rügemer

Quelle: Junge Welt 04/02/‘01

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